Karin Wiegand
Ach, gäbe es doch schon das schöne neue Leben, in dem keine Autos mehr die Innenstadt verstopften. Karin hätte dann einen freien Blick auf den Marktplatz und die abertausenden Geranien, deren Farben in der Spätsommersonne leuchten. Fürs Erste aber versperrt noch das gewienerte Blech mausgrauer Karossen den schönen Blick aus ihrem Laden. Die Salzburgerin hält mit ihrem roten Mantel dagegen, denn die Autos sind Teil ihrer Realität. Die Kundschaft ihres klassischen Fotofachgeschäfts und Studios ist selten die autofreie Avantgarde, beharrlich arbeitet sie aber darauf hin, dass ihre Wege sich in Zukunft kreuzen.
Text & Fotografie: Jonathan Linker | Handlettering: Julia Wenderoth | Design: Jonas Seemann
Immer offen: Karin Wiegand ist eine der wenigen Konstanten am Marktplatz von Homberg, auch das ist nachhaltig. Sie öffnet ihr Fotostudio an sechs Tagen in der Woche und dokumentiert am siebten Tag die Vielzahl der kulturellen Veranstaltungen in der Region, die ihr Ausgleich sind.
Jenseits von Höhen und Tiefen
Karin ist mit ihrem Mann nach Homberg gekommen, arbeitete als angestellte Fotografin und brachte zwei Töchter und einen Sohn auf die Welt. Nach sieben Jahren rüttelte die Trennung von ihrem Mann an ihrer Entscheidung für Nordhessen und bald darauf schloss auch ihr Arbeitgeber sein Studio. Karin stand damals vor der Entscheidung wieder nach Salzburg zurückzukehren und entschied sich zu bleiben. Sie öffnete ihr eigenes Fotofachgeschäft und füllte damit über Jahrzehnte eine Lücke in Homberg. Mit der aufkommenden Digitalfotografie galt ihr Beruf manchen Menschen plötzlich als überholt. In der Realität führt aber nicht nur kein Weg daran vorbei, es gibt tatsächlich auch keinen Grund an der Zukunftsfähigkeit der Fotografie zu zweifeln.
Die goldenen Zeiten waren nie vorüber
In unserem schönen neuen Leben laufen wir mit ausgeleierten Hosentaschen herum, weil wir es für fortschrittlich halten, Telefone schwer wie Wackersteine bei uns zu tragen. Und weil die auch Fotos machen können, glauben wir dann, keine Fotografen mehr zu brauchen. Wehe aber, wir brauchen mal etwas ganz alltägliches wie ein Passfoto: Mit unseren digitalen Selfies stehen wir dann vor analogen Behörden und machen lange Gesichter. Um die Wertschätzung für die Fotografie zu erhalten, schickt Karin ihre Praktikanten gerne erstmal mit ihren Kunden alleine in ihr Studio. Den einschüchternden Eindruck der Lichttechnik nur mit der eigenen Präsenz beiseite zu wischen ist ein Sprung in eiskaltes Wasser. Dann leitet Karin ihre Schüler an, Beziehungen aufzubauen, Haltung zu korrigieren und Mimik herauszukitzeln, die ansonsten verborgen bliebe. Und dann ist Fotografie doch eben wieder viel mehr als nur auf einen Auslöser zu tippen. Karin bereitet mit Freude verblichene Familienportraits auf, damit sie auch unsere Gegenwart überdauern, in der Fotos auf Cloudspeichern in Vergessenheit geraten. Sie retuschiert Menschen, die das Leben gezeichnet haben, damit sie neues Selbstbewusstsein schöpfen können.
Heute arbeiten, morgen leben
Heute sitzt sie zwischendurch in dem Café gegenüber ihres Ladens, von wo aus sie ihre Tür gut im Blick hat. Kaum jemand der über den Platz läuft, den sie nicht kennt, dem sie nicht aushilft, aus dem Regen hereinbittet, dessen Pakete sie nicht entgegennimmt, dem sie nicht den unbekannten Weg erklärt oder Empfehlungen gibt. Ob es sie bekümmert, falls doch niemand ihren Platz hier wird einnehmen wollen, wenn sie selbst eines Tages ihren Laden schließt? Sentimental ist sie nicht, stattdessen hat sie einen festen Plan: In zehn Jahren soll ihr Fachwerkhaus in der Untergasse fertig sein, so viel Zeit hat sie sich genommen um es mit ihren Mitteln vor dem Verfall zu bewahren. In den Obergeschossen sollen fünf Mietwohnungen ihr Alter sichern und im Erdgeschoss ein Regionalwarenladen ihre Seele schützen. Nichts zu tun ist nämlich auch nichts für Karin. Trifft sich künftig die autofreie Avantgarde Hombergs bei ihr? Karin lässt es entspannt auf sich zukommen.
Karin Wiegand im Interview
“Ich liebe es Menschen zu zeigen welche Schönheit in ihnen und unserer Region steckt.”
Was bietet dir die Region Homberg?
Eine wunderschöne Altstadt, freundliche offene Menschen, weltoffen und mulitikulturell. Bevor ich mich selbstständig machte, habe ich überlegt wo anders hinzuziehen. Nach Hamburg zu meiner Tochter oder nach Halle/Leipzig zur anderen oder zurück nach Österreich zum Rest meiner Familie, aber hier in Homberg sind die Mieten und Hauspreise günstig, und ich bin in jede Richtung nicht so weit weg.
Was kannst du für die Region tun?
Die Attraktivität der Altstadt mit meinem Geschäft und meinem Haus erhalten indem ich ein Angebot und eine Auswahl schaffe die man anfassen und dem individuellen Bedarf anpassen kann. Bei mir ist man keine Nummer sondern Mensch!
Was fehlt dir in der Region?
Das Erkennen was wir hier haben an Schönheit und Potential. Die Touristen, die zu mir ins Altstadtgeschäft kommen erkennen das alle. Bessere Verkehrsanbindung und die Einsicht, dass wir uns bei Städtereisen an die schönen alten Häuser und die kleinen Cafés und Geschäftchen erinnern und nicht an das tolle Einkaufszentrum.
Was wünscht du dir für die kommenden Jahre?
Fortschritt und auch Rückschritt – dass die Renovierungsarbeiten an meinem Altstadthaus schnell voran kommen um Wohnraum für Viele (Nationen) zu schaffen und dass die schöne Altstadt wieder mit Fachgeschäften belebt wird.
Mein Lieblingsort
Unsere Natur
„Im Wald wo es ruhig und friedlich ist. Die Vögel zwitschern uns sonst nichts zu hören ist außer das glucksen eines Baches. Hier in unserer Gegend gibt es viele Wälder und Hügel und Täler und Seen.“